Christliche Inhalte im Ganztag - Was geht?
ein Beitrag von Oliver Pum,Landesreferent für Kirche, Jugendarbeit und Schule in Württemberg
Evangelisches Jugendwerk Württemberg
Rechtliche Grundlagen
Um zu klären, ob christliche Inhalte im Ganztag möglich sind, ist es zunächst wichtig zu verstehen, in welchem rechtlichen Umfeld wir uns bewegen. Der Rechtsanspruch auf ganztägige Förderung gemäß Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) ist bundeseinheitlich geregelt im Sozialgesetzbuch VIII, dem Kinder- und Jugendhilferecht (§ 24.4 SGB VIII). Anders als vielfach angenommen, ist es also kein Rechtsanspruch auf Ganztagsschule, sondern ein Jugendhilfeanspruch, der in der Regel in Tageseinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe - also außerschulisch - stattfindet. Es gelten daher in der Regel die Prinzipien der Jugendhilfe. Sofern die Erfüllung des Rechtsanspruchs im Rahmen einer Ganztagsgrundschule erfolgt, ist Schulrecht (und damit Landesrecht…) relevant.
Zu den Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe gehört unter anderem die Vielfalt der Träger mit unterschiedlichen Wertorientierungen (§ 3.1 SGB VIII). Die Träger der freien Jugendhilfe sind dabei selbständig in Zielen und Gestaltung ihrer Angebote (§ 4.1 SGB VIII) - das schließt selbstverständlich auch christliche Träger ein. Zu beachten ist, dass CVJMs häufig nicht automatisch Träger der Jugendhilfe sind, sondern dies ggf. beantragen müssen.
Die Freiheit des Trägers in Zielen und Ausgestaltung seiner Angebote wird eingeschränkt durch das Recht der Eltern, die Grundrichtung der Erziehung zu bestimmen sowie die Rechte von Kindern und Eltern bei der religiösen Erziehung (§ 9.1 SGB VIII). Zu beachten wäre - auch im außerschulischen Bereich - das Überwältigungsverbot nach dem „Beutelsbacher Konsens“: keinem Schüler/keiner Schülerin darf eine Meinung aufgezwungen werden, kontroverse Themen müssen kontrovers dargestellt werden, so dass eine eigene Meinungsbildung möglich ist.
Wie ist es nun aber im Kontext Schule? Muss die Schule nicht weltanschaulich neutral sein? Und sind christlich geprägte Angebote dann überhaupt möglich?
In der Regel sind Lehrkräfte durch das Schulgesetz verpflichtet, die Neutralität des Staates zu gewährleisten. So heißt es beispielsweise im Schulgesetz von NRW: „Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören.“ (Schulgesetz NRW § 57.4 - analog in den Schulgesetzen anderer Bundesländer). Im gleichen Paragraphen wird aber auch klargestellt: „Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. […]“, denn gemäß der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen ist „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, […] vornehmstes Ziel der Erziehung.“ Ähnlich auch in der Landesverfassung von Baden-Württemberg, Artikel 12: „Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe […] zu erziehen. Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die in ihren Bünden gegliederte Jugend.“
Gemäß dem baden-württembergischen Schulgesetz leisten christliche Angebote an den Schulen sogar einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung des Bildungsauftrags der Schule: „Die Schule hat den in der Landesverfassung verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag zu verwirklichen. Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler in Verantwortung vor Gott, im Geiste christlicher Nächstenliebe, zur Menschlichkeit und Friedensliebe, […] zu erziehen.“ Und weiter: „Bei der Erfüllung ihres Auftrags hat die Schule das verfassungsmäßige Recht der Eltern, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder mitzubestimmen, zu achten und die Verantwortung der übrigen Träger der Erziehung und Bildung zu berücksichtigen.“
Grundsätzlich sind die Bundesländer frei in der inhaltlichen Ausgestaltung von Schule. Entsprechend unterschiedlich sind die landesgesetzlichen Regelungen. Daher ist immer zu prüfen, was im jeweiligen Bundesland gilt.
Bundesweit hat sich aber bereits mehrfach das Bundesverfassungsgericht mit der Frage der Neutralität beschäftigt. Am bekanntesten sind vermutlich die sogenannten „Kopftuchurteile“ von 2003 und 2015 (BVerfG - 2 BvR 1436/02 - und BVerfG - 1 BvR 471/10 -). Tenor beider Urteile ist, dass Neutralität nicht bedeutet, dass Schule frei von religiösen Bezügen sein muss, sondern dass positive und negative Religionsfreiheit angemessen gegeneinander abgewogen werden müssen : „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch in positivem Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.“ (2003, Ziffer 43) Und konkret in Bezug auf die Schule: „Danach sind christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität. Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidlich sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde nach einem Ausgleich gesucht werden.“ (2003, Ziffer 44)
Zusammengefasst:
Staat (und Schule) sind nicht neutral, indem sie frei von Religion sind, sondern dadurch, dass sie aktiv Raum für unterschiedliche weltanschauliche Positionen und dadurch für gesellschaftlichen Diskurs sorgen. Staatliche Neutralität entsteht durch Pluralität. Eingeschränkt werden kann diese Pluralität nur dann, wenn ganz konkret und belegbar der Schulfriede gestört ist – eine rein abstrakt angenommene Möglichkeit der Gefährdung des Schulfriedens reicht dazu nicht aus (2015, Ziffer 115).
Neben den bundes- und landesgesetzlichen Regelungen gibt es häufig noch Rahmenvereinbarungen der Landeskirchen mit den Bundesländern. So haben zum Beispiel die evangelischen und katholischen Kirchen in Baden-Württemberg 2015 mit dem Land Kultusministerium eine Rahmenvereinbarung zum Ganztag vereinbart, in der die Potentiale der Kirchen und kirchlichen Träger sowie die jeweiligen Rechte und Pflichten benannt werden rahmenvereinbarung-kirchen-ganztag.pdf. Solche Vereinbarungen sind hilfreich, um offene Punkte zu klären und beiden Partnern einen verlässlichen Rahmen zu geben.
Und was heißt das jetzt ganz praktisch?
Es gibt zwar Unterschiede zwischen den Bundesländern, aber rechtlich ist es möglich, als christlicher Träger Angebote mit christlichen Inhalten zu machen: sowohl an den Schulen als auch im Kontext der Jugendhilfe (GaFöG). Dabei leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung des gesetzlich verankerten gemeinsamen Bildungsauftrags von Eltern, Staat, Kommunen, Kirchen und Jugendverbänden. Als Jugendverband haben wir sogar einen eigenen Bildungsauftrag - auch im Kontext der Schule.
Aus meiner persönlichen Erfahrung im Arbeitsfeld einige Überlegungen für die Arbeit vor Ort:
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1. Kinder in den Mittelpunkt
Im Mittelpunkt unserer Angebote sollten die Kinder und Jugendlichen stehen. Die Delegiertenversammlung des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg (EJW) hat es 2017 in der Präambel des Grundlagenpapiers „Den Aufbruch wagen – im Lebensraum Schule präsent sein!“ so formuliert: „Schulbezogene Jugendarbeit sucht das Beste für junge Menschen – nicht für sich selbst. […] Geprägt von der besten Nachricht der Welt, dem Evangelium von Jesus Christus, macht sich evangelische Jugendarbeit auf den Weg an den Ort, an dem Jugendliche einen wachsenden Teil ihrer Zeit verbringen: die Schule.“ Selbstverständlich dürfen wir als Jugendverband auch eigene Interessen haben. Wir sollten aber immer ehrlich prüfen, ob das auch die Interessen der Kinder sind, für die wir unsere Angebote machen.
2. Das Recht gewinnen, gehört zu werden
In einer zunehmend säkularen Welt sorgen Begriffe wie „Verkündigung“ und „Mission“ für Irritationen, häufig stoßen sie auf Ablehnung. Selbstverständlich sollen wir uns mit unserem weltanschaulichen Profil und unseren Werten in die Gesellschaft einbringen. Verkündigung war aber schon immer ein Kommunikationsprozess zwischen Gott und den Menschen. Hilfreich finde ich dabei das Young-Life-Prinzip, dass man zunächst „das Recht gewinnen muss, gehört zu werden“. Das gilt für die konkreten Angebote mit Kindern und Jugendlichen – aber auch für die Gespräche mit Schulleitungen oder Verantwortlichen in den Kommunen. Zunächst müssen wir Vertrauen gewinnen und Beziehungen aufbauen - und dann Evangelium in Wort und Tat leben. An unserem Beispiel wird unser Gegenüber erleben, was Christ sein bedeutet – oder auch nicht…
3. Transparent sein
Wir müssen verständlich erklären können, was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun – und was der Nutzen für die Kinder und Jugendlichen und unsere Kooperationspartner ist. Dabei werden wir lernen müssen, dass für Menschen, die nicht christlich sozialisiert sind, Begriffe wie „Andacht“ oder „Jungschar“, die für uns selbstverständlich sind, weitgehend unbekannt sind. Wir werden also erklären und umschreiben müssen, was bei einer Andacht eigentlich passiert. Das ist ein wertvoller Prozess, der uns hilft, unsere Inhalte zu reflektieren und verständlich zu kommunizieren. Zur Transparenz gehört auch, dass das, was wir tun, auch in einer Ausschreibung (zum Beispiel eines Angebots an der Schule) steht. Kinder und Eltern müssen wissen, was sie erwartet. Und sie müssen im Interesse der (negativen) Religionsfreiheit auch die Möglichkeit haben, ein anderes Angebot zu wählen.
4. Offen sein
Schulbezogene Angebote sind eine tolle Möglichkeit, neue Milieus zu erreichen. Das stellt uns aber auch vor Herausforderungen. Die Bandbreite der Kinder und Jugendlichen ist wesentlich größer, als wir es gewohnt sind. Gerade im Kontext Schule werden unsere Angebote, auch wenn sie freiwillig sind, häufig als Pflicht erlebt. Andererseits sind diese Angebote eine Chance, aus dem Schulalltag auszubrechen, Schule anders zu erleben. Je offener wir den jungen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit begegnen und sie annehmen, wie sie sind (auch wenn es manchmal anstrengend ist) um so mehr werden sie christliche Jugendarbeit positiv erleben.
5. Religionssensibel sein
Im Idealfall sind in unseren Angeboten Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen – und auch Kinder und Jugendliche, die nichts glauben. Es ist einerseits im Sinne der Pluralität, wenn alle die Möglichkeit haben, von sich und ihren kulturellen und religiösen Hintergründen zu erzählen – es legitimiert aber auch uns, über unseren christlichen Glauben zu reden. Abgesehen davon ist es für alle Beteiligten ungemein bereichernd, voneinander zu lernen. Zum religionssensiblen Arbeiten gehört es auch, eigene Rituale zu überdenken. Dabei geht es oft um Kleinigkeiten. Es ist ein Unterschied, ob ich sage „Wir beten!“ oder ob ich zum Gebet einlade: „Ich würde jetzt gerne beten. Im Gebet bringen wir unsere Sorgen und Nöte vor Gott. Wer mit mir beten möchte – ob laut oder in der Stille – ist herzlich dazu eingeladen. Wenn Du nicht beten möchtest, ist das voll o.k. – es wäre aber klasse, wenn Du, solange wir beten, still sein könntest.“ Das Gleiche für den Segen: vielleicht möchten gar nicht alle gesegnet werden? Vielleicht bringt es den einen oder die andere in Konflikt mit dem eigenen Glauben? Aus Respekt sollten wir auch hier Formen finden, die den anderen und seine religiösen Gefühle wertschätzen – und gleichzeitig Gottes Freundlichkeit allen Menschen gegenüber zum Ausdruck bringen.
In seinem Buch „Das Recht des Kindes auf Religion“ schreibt der Theologe Friedrich Schweitzer unter anderem: „Kinder dürfen in ihren Fragen nach Gott und Glauben, nach Leben und Leiden, nach Sinn und Hoffnung nicht allein gelassen werden. Sie haben das Recht auf den Glauben als Quelle für Lebenskraft und Stärke – auch wenn Eltern mit ihren eigenen Unsicherheiten und Zweifeln zu kämpfen haben.“ Angebote im Rahmen des Ganztags ermöglichen es, dass wir mit Kindern und Jugendlichen über diese Lebensfragen ins Gespräch kommen – außerhalb des Religionsunterrichts und mit den Formen, Methoden und Prinzipien der Jugendarbeit. Junge Menschen können an unserem Beispiel erleben, was Christ sein heißt – und dann selbständig entscheiden, ob und wenn ja was sie glauben möchten.